Kontingenz im Mediationsprozess

Prolog

Dieser Aufsatz ist aus einer besonderen Erfahrung heraus entstanden, die der Autor während einer Sparring-Session in einer Mediationsausbildung gemacht hat, die er selbst leitete. In dieser Session wurde deutlich, wie entscheidend die innere Haltung des/r Mediators/in für den Erfolg eines Mediationsverfahrens ist. Obwohl die Teilnehmenden der Ausbildung die Techniken der Mediation bereits hervorragend beherrschten, zeigte sich, dass viele von ihnen dennoch Schwierigkeiten hatten, das Prinzip der Kontingenz, das in diesem Aufsatz im Mittelpunkt steht, in ihre Praxis zu integrieren. Es wurde offensichtlich, dass es nicht ausreicht, nur die Werkzeuge der Mediation zu meistern, wenn Mediatoren/innen unbewusst oder bewusst dazu neigen, bestimmte Lösungswege vorzuziehen oder vorzugeben. Diese Erkenntnis hat den Autor dazu veranlasst, die Bedeutung der Kontingenz für die Haltung des/r Mediators/in genauer zu beleuchten und die Herausforderungen zu analysieren, die mit der Umsetzung dieser Haltung in der Praxis verbunden sind.

"Es irrt der Mensch, solang er strebt."

J.W. Goethe, Faust I. Teil, „Prolog im Himmel“

Diese menschliche Neigung zum Irrtum zeigt sich auch in der Mediation, wenn Mediatoren/innen unbewusst oder bewusst dazu neigen, bestimmte Lösungswege vorzuziehen oder vorzugeben und dabei starr an einmal aufgestellten Hypothesen festhalten, selbst wenn der Prozessverlauf neue Erkenntnisse oder alternative Möglichkeiten aufzeigt.


Kontingenz und Mediation

In der heutigen Gesellschaft, die durch politische und mediale Einflüsse geprägt ist, wird oft der Anschein erweckt, dass soziale Strukturen stabil und konsistent sind. In Wirklichkeit jedoch sind diese Strukturen extrem fragmentiert, brüchig und instabil. Die Systemtheorie, insbesondere der Begriff der Kontingenz, bietet eine wertvolle Perspektive, um diese Instabilität zu verstehen. Kontingenz beschreibt die Möglichkeit, dass Ereignisse und Entwicklungen nicht notwendig, sondern vielmehr zufällig und veränderbar sind. Diese Einsicht lässt sich fruchtbar auf Mediationsverfahren übertragen, wo die Anerkennung von Kontingenz eine entscheidende Rolle für den Prozess und den Erfolg der Konfliktlösung spielen kann.

Begriff der Kontingenz in der Systemtheorie

Kontingenz ist ein zentraler Begriff in der Systemtheorie, insbesondere in den Arbeiten von Niklas Luhmann. Es beschreibt die grundlegende Unsicherheit und Offenheit sozialer Systeme, in denen jede Entscheidung oder jedes Ereignis anders hätte ausfallen können. Diese Perspektive widerspricht dem traditionellen Verständnis von Stabilität und Vorhersehbarkeit und betont stattdessen die Vielfalt der Möglichkeiten und die Abhängigkeit von spezifischen Kontexten und Bedingungen.

Mediationsverfahren: Struktur und Zielsetzung

Mediationsverfahren zielen darauf ab, Konflikte durch die Vermittlung einer neutralen dritten Partei zu lösen. Anders als in juristischen Prozessen, in denen oft eine "richtige" Lösung gesucht wird, basiert Mediation auf dem Prinzip, dass die Konfliktparteien selbst die Kontrolle über den Ausgang behalten. Der Mediator hilft ihnen, gemeinsam eine Lösung zu finden, die für alle Beteiligten akzeptabel ist.

Die Rolle des Mediators ist dabei nicht die eines Richters oder Schiedsrichters, sondern die eines Facilitators, der den Parteien hilft, ihre Bedürfnisse, Interessen und Perspektiven zu artikulieren und mögliche Lösungen zu identifizieren. Dieser Prozess ist per se kontingent, da es keine festgelegten Ergebnisse oder Pfade gibt. Jede Mediation verläuft anders und kann zu verschiedenen Ergebnissen führen, je nachdem, wie die Parteien miteinander interagieren und welche Entscheidungen sie treffen.

Kontingenz in der Mediation

Die Anwendung des Kontingenzbegriffs auf die Mediation ermöglicht ein tieferes Verständnis des Verfahrens und der Dynamiken, die in der Konfliktlösung wirken. In der Mediation ist es entscheidend, dass sowohl die Mediatoren als auch die Parteien die Offenheit des Prozesses anerkennen. Der Ausgang eines Mediationsverfahrens ist nicht determiniert; er hängt von den spezifischen Umständen, den beteiligten Personen und den Interaktionen im Verlauf der Mediation ab.

Durch die Anerkennung von Kontingenz wird es möglich, eine Vielzahl von Lösungswegen zu erkunden, anstatt sich auf eine einzige "richtige" Lösung zu fixieren. Diese Offenheit fördert die Kreativität im Prozess und ermöglicht es den Parteien, Lösungen zu finden, die ihren spezifischen Bedürfnissen und Interessen besser entsprechen als standardisierte oder vorhersehbare Ergebnisse.

Praktische Implikationen der Kontingenz in der Mediation

Die Anerkennung der Kontingenz hat mehrere praktische Implikationen für die Gestaltung und Durchführung von Mediationsverfahren:

  1. Flexibilität: Mediatoren sollten flexibel auf die Dynamiken innerhalb der Mediation reagieren und bereit sein, den Prozess entsprechend anzupassen. Starre Vorgehensweisen können die Kreativität und die Bereitschaft der Parteien, sich auf den Prozess einzulassen, einschränken.
  2. Empowerment der Parteien: Indem Mediatoren die Parteien ermutigen, die Kontingenz des Prozesses zu akzeptieren, können sie deren Verantwortung und Einfluss auf den Ausgang der Mediation stärken. Dies führt oft zu nachhaltigeren und konsensuelleren Lösungen.
  3. Vermeidung von Determinismus: Die Gefahr, dass Mediatoren oder Parteien versuchen, den Prozess in eine bestimmte Richtung zu lenken, sollte erkannt und vermieden werden. Die Offenheit und Unvorhersehbarkeit des Prozesses sollte als Stärke und nicht als Schwäche verstanden werden.

Herausforderungen und Grenzen

Obwohl die Anerkennung der Kontingenz viele Vorteile in der Mediation bietet, gibt es auch spezifische Herausforderungen und Grenzen, die beachtet werden müssen. Eine der größten Herausforderungen ist, dass die Offenheit des Prozesses bei den beteiligten Parteien Unsicherheit und Angst auslösen kann, besonders dann, wenn eine der Parteien stark auf Sicherheit und Vorhersehbarkeit angewiesen ist. Beispielsweise könnte eine Partei, die sich in einer rechtlich oder wirtschaftlich schwächeren Position befindet, das Gefühl haben, dass die Vielzahl an möglichen Ergebnissen ihre Lage noch unsicherer macht. In solchen Fällen ist es entscheidend, dass der Mediator aktiv daran arbeitet, eine Balance zu schaffen. Dies kann durch das Einführen von klaren Strukturen und Zwischenschritten geschehen, die den Parteien ein Gefühl von Sicherheit geben, während gleichzeitig die Offenheit und Flexibilität des Prozesses bewahrt wird.

Ein weiteres konkretes Problem der Kontingenz in der Mediation ist die potenzielle Überforderung der Parteien durch die Vielzahl an möglichen Lösungswegen. Besonders dann, wenn die Konfliktparteien wenig Erfahrung mit solchen Prozessen haben oder sich emotional stark belastet fühlen, kann die Vielzahl der Optionen überwältigend wirken. Der Mediator muss hier gezielt eingreifen, um den Prozess zu strukturieren und die Optionen für die Parteien überschaubar zu halten. Dies kann zum Beispiel durch die Einführung von Kriterien geschehen, anhand derer die möglichen Lösungen bewertet und priorisiert werden, oder durch das Fokussieren auf die wichtigsten Interessen und Bedürfnisse, um die Entscheidungsfindung zu erleichtern. Auf diese Weise kann der Mediator den Parteien helfen, den Überblick zu behalten und sie gleichzeitig ermutigen, kreative und nachhaltige Lösungen zu entwickeln.

Conclusio

Die Anwendung des Kontingenzbegriffs auf Mediationsverfahren eröffnet neue Perspektiven auf den Prozess der Konfliktlösung. Indem sowohl Mediatoren als auch die Konfliktparteien die Offenheit und Unsicherheit des Prozesses akzeptieren, können sie kreativer und flexibler auf die Dynamiken des Konflikts reagieren. Dies führt oft zu nachhaltigeren und einvernehmlicheren Lösungen, die den spezifischen Bedürfnissen der Parteien besser gerecht werden. Gleichzeitig müssen Mediatoren die Herausforderungen und Grenzen der Kontingenz im Blick behalten und den Prozess so gestalten, dass er für alle Beteiligten handhabbar bleibt.

Reflexionsfragen

  • Wie bewusst sind Sie sich als Mediator/in Ihrer eigenen Haltung und deren Einfluss auf den Mediationsprozess?
  • In welchen Situationen neigen Sie dazu, einen bestimmten Lösungsansatz bevorzugen zu wollen, und wie wirkt sich das auf den Prozess und die beteiligten Parteien aus?
  • Wie können Sie als Mediator/in sicherstellen, dass Sie die Offenheit und Kontingenz des Prozesses wahren, ohne den Parteien das Gefühl von Unsicherheit zu geben?
  • Welche konkreten Strategien können Sie entwickeln, um den Parteien trotz der Vielzahl an möglichen Lösungswegen eine klare und strukturierte Entscheidungsfindung zu ermöglichen?
  • Wie können Sie als Mediator/in Ihre eigene Haltung reflektieren und weiterentwickeln, um besser mit der Kontingenz im Mediationsprozess umzugehen?