Selbstwahrnehmung in der Mediation

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Basis für Allparteilichkeit, Neutralität und Klarheit

In dieser ersten Ausgabe der Reihe "Emotionale Intelligenz in der Mediation" konzentrieren wir uns auf die Selbstwahrnehmung als grundlegendes Element für eine erfolgreiche Mediation. Selbstwahrnehmung bedeutet, die eigenen Emotionen, Gedanken und körperlichen Reaktionen während des Mediationsprozesses bewusst wahrzunehmen und zu reflektieren. Nur durch diese bewusste Auseinandersetzung mit eigenen ‚inneren‘ Antriebskräften können Mediator/innen ihre Allparteilichkeit wahren und eine unvoreingenommene Haltung einnehmen.

Selbstwahrnehmung ist eine zentrale Fähigkeit, die es Mediator/innen ermöglicht, ihre eigenen Emotionen, Reaktionen und inneren Prozesse zu erkennen und zu steuern, bevor diese das Mediationsverfahren beeinflussen. Im Mediationsprozess werden Mediator/innen oft mit emotional aufgeladenen Situationen konfrontiert; ohne ausgeprägte und bewusste Selbstwahrnehmung besteht die Gefahr, dass unbewusste Gefühle und Reaktionen subtil in die Dynamik der Mediation einfließen und die Allparteilichkeit/Neutralität gefährden.

Warum ist Selbstwahrnehmung das Fundament der emotionalen Intelligenz?

Emotionale Intelligenz setzt die Fähigkeit voraus, nicht nur die Emotionen anderer, sondern auch die eigenen zu erkennen und zu verstehen. Diese Selbstwahrnehmung ist der erste Schritt zur emotionalen Intelligenz, da sie es Mediator/innen ermöglicht, ihre eigene emotionale Verfassung kontinuierlich zu überprüfen. Das Erkennen von Emotionen wie Frustration, Ungeduld oder Sympathien ist entscheidend, da diese Emotionen oft unbewusst auftreten können und den Verlauf der Mediation beeinflussen könnten.

Stellen wir uns einen Fall vor, in dem ein/e Mediator/in unbewusst Sympathie für eine der Konfliktparteien empfindet. Diese unbewusste emotionale Neigung könnte dazu führen, dass der/die Mediator/in die Argumente einer Partei wohlwollender interpretiert oder einer Partei häufiger das Wort erteilt. Ohne Selbstwahrnehmung könnte dies die Allparteilichkeit des/der Mediators/in untergraben und das Vertrauen der Mediand/innen in den Prozess schwächen. Durch bewusste Selbstwahrnehmung kann der/die Mediator/in solche Tendenzen frühzeitig erkennen und gegensteuern, um eine faire und ausgewogene Moderation zu gewährleisten.

Selbstwahrnehmung zur Vermeidung emotionaler „Blinder Flecken“

Ein weiterer entscheidender Aspekt der Selbstwahrnehmung ist die Vermeidung von emotionalen „blinden Flecken“. Diese treten auf, wenn Mediator/innen ihre eigenen Emotionen und Voreingenommenheit nicht wahrnehmen und unbewusst in den Prozess einbringen. Blinde Flecken können durch frühere persönliche Erfahrungen oder durch kulturelle Prägungen beeinflusst werden. Ein/e Mediator/in, der/die beispielsweise in der Vergangenheit in einem ähnlichen Konflikt gestanden hat, könnte unbewusst Annahmen darüber treffen, wie der aktuelle Konflikt zu lösen ist. Diese Voreingenommenheit beeinflusst nicht nur die Art und Weise, wie der Konflikt gesehen wird, sondern auch die Herangehensweise an die Mediation.

Selbstwahrnehmung hilft Mediator/innen, diese emotionalen blinden Flecken zu erkennen und sich ihrer bewusst zu werden, bevor sie unbewusst in die Dynamik des Mediationsprozesses eingreifen. Es erfordert eine kontinuierliche Reflexion über die eigenen Reaktionen, um zu verstehen, welche inneren Muster aktiviert werden und wie sie gesteuert werden können.

Verbindung von Selbstwahrnehmung und Neutralität/Allparteilichkeit

Eine große Herausforderung für Mediator/innen ist es, in fordernden oder emotional intensiven Momenten neutral und allparteilich zu bleiben. Neutralität erfordert, dass Mediator/innen nicht nur sachlich bleiben, sondern auch ihre eigenen emotionalen Reaktionen zu verstehen und zu steuern. Selbstwahrnehmung ist hier der erste Schritt: Mediator/innen müssen in der Lage sein, ihre eigenen Gefühle und Antriebe zu erkennen, bevor sie handeln.

Ein Beispiel hierfür wäre eine Situation, in der ein/e Mediator/in auf eine aggressive oder unkooperative Partei trifft. Ohne geeignete Selbstwahrnehmung könnte der/die Mediator/in unbewusst defensiv oder ablehnend reagieren. Diese Reaktionen könnten den Konflikt verschärfen oder die Beteiligten dazu bringen, sich noch stärker zu verteidigen. Wenn der/die Mediator/in jedoch in der Lage ist, ihre/seine Emotionen – wie Frustration oder Stress – bewusst zu erkennen, kann sie/er (bewusste) Strategien entwickeln, um diese Emotionen zu regulieren und die Neutralität zu wahren.

Emotionale Selbstwahrnehmung als Voraussetzung für Empathie

Neben der Allparteilichkeit ist Selbstwahrnehmung auch eine Voraussetzung für Empathie – einer generellen Fähigkeit, die Menschen dabei hilft, ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln. Empathie „hat“ man jedoch nicht einfach, sondern Menschen müssen offen dafür sein, empathisch zu agieren. Es ist eine aktive, bewusste Handlung, die erfordert, sich in andere hineinzuversetzen und ihre Perspektive verstehen zu wollen.

Um die Gefühle und Perspektiven der Mediand/innen wirklich zu verstehen, müssen Mediator/innen zuerst ihre eigenen Emotionen und Reaktionen erkennen und steuern können. Andernfalls könnten die eigenen Gefühle den Zugang zur Empathie blockieren. Ein/e Mediator/in, der/die unbewusst wütend oder genervt ist, könnte Schwierigkeiten haben, die Perspektive der Parteien zu verstehen und empathisch darauf einzugehen.

Durch bewusste Selbstwahrnehmung sind Mediator/innen besser in der Lage, die Emotionen der Mediand/innen zu erkennen und darauf zu reagieren, ohne von ihren eigenen emotionalen Reaktionen geleitet zu werden. Dies führt zu einem konstruktiveren Prozess, in dem ein tieferes gegenseitiges Verständnis und Vertrauen aufgebaut werden kann.

Die Selbstwahrnehmung ist eine unverzichtbare Fähigkeit, die es Mediator/innen ermöglicht, ihre Allparteilichkeit/Neutralität zu wahren, blinde Flecken zu vermeiden und empathisch auf die Mediand/innen einzugehen. Sie bildet das Fundament der emotionalen Intelligenz, auf dem alle weiteren Fähigkeiten aufbauen. Mediator/innen, die sich ihrer eigenen Emotionen und Reaktionen bewusst sind, können den Mediationsprozess effektiver steuern und die Konfliktparteien besser unterstützen.

Reflexion und Selbstbeobachtung

Reflexion und Selbstbeobachtung sind zentrale Elemente für jede/n Mediator/in, um emotionale Intelligenz effektiv anzuwenden. Die Fähigkeit, sich selbst kritisch zu hinterfragen, ist unverzichtbar, um als neutrale und objektive dritte Partei agieren zu können. In einem komplexen Mediationsprozess sind Emotionen allgegenwärtig, nicht nur bei den Konfliktparteien, sondern auch bei der/dem Mediator/in selbst. Daher ist es entscheidend, sich seiner eigenen emotionalen Reaktionen bewusst zu werden und diese aktiv zu reflektieren, um die eigene Neutralität und Professionalität zu wahren.

Reflexion ist mehr als eine flüchtige Selbstbeobachtung – es ist ein bewusster, tiefer Prozess, in dem Mediator/innen sich selbst regelmäßig hinterfragen und beobachten, um ihre eigenen Reaktionen, Emotionen und möglichen Vorurteile zu erkennen. Dieser Prozess der Selbstbefragung ist notwendig, um die Kontrolle über die eigenen inneren Zustände zu behalten, die sonst unbemerkt den Mediationsprozess beeinflussen könnten.


Kernfragen zur Selbstreflexion

  • Welche Emotionen löst diese Situation in mir aus? Diese Frage zielt darauf ab, bewusst wahrzunehmen, wie der/die Mediator/in auf eine bestimmte Situation reagiert. Emotionen wie Frustration, Sympathie, Ungeduld oder Ärger können sich oft auf subtile Weise einschleichen und das Verhalten des/der Mediators/in unbewusst steuern. Indem sich Mediator/innen fragen, welche Emotionen in einem bestimmten Moment aufkommen, können sie diese erkennen, bevor sie sich negativ auf den Prozess auswirken.
  • Reagiere ich auf die Parteien aus einer emotionalen Voreingenommenheit heraus? Unbewusste Voreingenommenheit ist eine häufige Falle, die das Gleichgewicht und die Neutralität in der Mediation gefährden kann. Diese Voreingenommenheit kann entstehen, wenn der/die Mediator/in persönliche Sympathien oder Antipathien gegenüber einer Partei entwickelt. Durch diese Frage wird der/die Mediator/in angehalten, sich kritisch zu hinterfragen, ob eine emotionale Neigung die objektive Sicht auf den Konflikt trübt.
  • Habe ich unbewusste Vorurteile? Jeder Mensch trägt bestimmte Vorurteile mit sich, die auf Erfahrungen, Erziehung oder kulturellen Prägungen beruhen. In der Mediation können solche unbewussten Vorurteile die Art und Weise beeinflussen, wie der/die Mediator/in den Konflikt und die Parteien wahrnimmt. Ein Beispiel wäre, wenn etwa der/die Mediator/in (unbewusst) davon ausgeht, dass eine ruhigere oder weniger artikulierte Partei im Unrecht ist. Durch die Reflexion dieser Vorurteile können Mediator/innen diese erkennen und neutralisieren, um den Prozess fair zu gestalten.


Kontinuierliche Reflexion

Reflexion ist kein einmaliger Vorgang, sondern muss beständig während und nach dem Mediationsprozess stattfinden. Während der Mediation ist es wichtig, immer wieder innezuhalten und sich selbst zu fragen: „Wie beeinflussen meine eigenen Gedanken und Gefühle den Prozess gerade?“ Nach Abschluss einer Sitzung ist es ebenso wertvoll, sich Zeit zu nehmen, um über die eigene Rolle nachzudenken, etwa: „Gab es Momente, in denen meine eigenen Emotionen das Verhalten der Parteien beeinflusst haben?“ Diese kontinuierliche Reflexion hilft Mediator/innen, sich ihrer eigenen Entwicklung bewusst zu werden und die eigene emotionale Intelligenz zu schärfen.


Reflexion als Instrument zur emotionalen Selbststeuerung

Selbstbeobachtung geht Hand in Hand mit emotionaler Selbststeuerung. Der Prozess der Reflexion hilft Mediator/innen nicht nur, ihre Emotionen zu erkennen, sondern auch zu verstehen, warum diese Emotionen in bestimmten Momenten aufkommen. Eine tiefere Reflexion könnte Fragen aufwerfen wie: „Warum habe ich in dieser Situation Frustration gespürt?“ oder „Welche persönlichen Erfahrungen oder unbewussten Annahmen haben meine Reaktion beeinflusst?“. Diese Einsichten ermöglichen es dem/der Mediator/in, eigene Emotionen besser zu steuern und in künftigen Situationen bewusstere und angemessenere Entscheidungen zu treffen.

Conclusio

Die regelmäßige Reflexion der eigenen emotionalen Zustände und Reaktionen ist entscheidend, um die eigene Professionalität und Allparteilichkeit/Neutralität zu wahren. Sie ist der Schlüssel zur Verbesserung der emotionalen Intelligenz und ermöglicht es Mediator/innen, auf lange Sicht bewusster, neutraler und effektiver zu agieren. Gleichzeitig hilft die Reflexion, Empathie zu fördern, indem Mediator/innen ihre eigenen Gefühle besser verstehen und dadurch offener für die Emotionen der Konfliktparteien werden.

Reflexion und Selbstbeobachtung sind essenzielle Werkzeuge, die Mediator/innen dabei unterstützen, ihre Allparteilichkeit/Neutralität zu bewahren und eine tiefere emotionale Intelligenz zu entwickeln. Durch kontinuierliche Selbstbefragung und kritische Reflexion über die eigenen Emotionen und Reaktionen können Mediator/innen ihre Selbstwahrnehmung schärfen und effektiver durch den Mediationsprozess führen.


Reflexionsfragen zur „Selbstwahrnehmung“

  1. Welche Emotionen habe ich während einer Mediation wahrgenommen? Gab es spezifische Situationen, in denen ich besonders emotional reagiert habe? Wie habe ich auf diese Emotionen reagiert?
  2. Wie hat sich meine innere Haltung während des Mediationsprozesses verändert? War ich in der Lage, meine emotionale Balance zu halten, oder gab es Momente, in denen ich mich von meinen Emotionen beeinflussen ließ?
  3. Gab es Momente, in denen ich unbewusste Vorurteile oder Sympathien für eine der Konfliktparteien gespürt habe? Wie habe ich darauf reagiert, und was hätte ich anders machen können, um meine Neutralität zu bewahren?
  4. Wie gut war ich in der Lage, meine eigenen emotionalen Reaktionen während der Mediation zu erkennen? Habe ich meine Emotionen bewusst wahrgenommen oder erst im Nachhinein bemerkt? Welche Strategien könnte ich entwickeln, um meine Emotionen frühzeitig zu erkennen?
  5. Inwiefern beeinflusst meine persönliche Erfahrung aus ähnlichen Konflikten das Mediationsverfahren? Konnte ich emotionale Reaktionen oder Vorurteile auf der Grundlage vergangener Erfahrungen identifizieren?
  6. Wie setze ich Achtsamkeit und Reflexion in meiner täglichen Praxis ein, um meine Selbstwahrnehmung zu schärfen? Welche Techniken nutze ich regelmäßig, und wie wirken sie sich auf meine Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung aus?
  7. Habe ich externes Feedback von Kolleg/innen oder Supervisor/innen eingeholt? Welche Erkenntnisse habe ich dadurch gewonnen, und wie haben sie meine Selbstwahrnehmung und mein Verhalten in künftigen Mediationen beeinflusst?


Vielen Dank, dass Sie sich mit dem Thema Selbstwahrnehmung in der Mediation auseinandergesetzt haben. Die bewusste Reflexion über eigene Emotionen und Reaktionen ist ein entscheidender Schritt, um Allparteilichkeit und Objektivität im Mediationsprozess zu wahren. Indem Sie diese Fähigkeit stärken, schaffen Sie die Grundlage für eine tiefere emotionale Intelligenz und eine erfolgreiche Mediation.

In der nächsten Ausgabe werden wir uns mit Selbstregulierung / Selbststeuerung beschäftigen – der Fähigkeit, in emotional herausfordernden Situationen ruhig und besonnen zu bleiben. Erfahren Sie, wie Sie Techniken wie Achtsamkeit und Emotionssteuerung einsetzen können, um auch in herausfordernden Momenten die Kontrolle zu behalten und den Mediationsprozess souverän zu leiten.